Durchkreuzte Weihnachten
Der verehrte Leser ist hiermit eingeladen, in der Nacht zum 25. Dezember am Weihnachtsgottesdienst der St.-Thomas-Gemeinde in einem gutbürgerlichen Vorort der hiesigen Stadt teilzunehmen. Naserümpfend der Einladung folgend, im Bewußtsein habend, daß das, was vorgestern Ketzerei und gestern Orthodoxie war, heute Aberglaube ist, und ahnend, daß diese Erkenntnis auch mal als Aberglaube enden wird, wird der Leser nach der Epistel einen Choralsatz hören: »Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf.« Dann wird ein Mann in der Kirche aufkreuzen und durch den Mittelgang zum Altartisch gehen. Er wird einen alten Mantel tragen, dem man es ansehen wird, daß er von der Stange gekauft worden ist. Eine Alkoholfahne wird sich in die weihrauchgeschwängerte Luft drängen. »Leute«, wird er laut sprechen, »bis heute nachmittag war ich ein trockengelegter Alkoholiker. Dann kam das Festessen. Meine Schwägerin, die Ahnungslose, hat einen Schuß Rotwein an die Bratensauce gegeben. Ich aß davon. … Leute, ich sag euch eines. Die Höllenqualen einer Entziehungskur mach ich nicht noch einmal mit!« Neben dem Leser wird sich ein Mann erheben und rufen: »Kopf hoch! Mann, Sie haben es einmal geschafft, Sie werden es wieder schaffen. Die Strapazen lohnen sich, das Leben ist im Grunde doch schön.« »Daß ich nicht lache«, wird der Alkoholiker erwidern. »Das soll schön sein? Leben mit den Idioten in der eigenen Familie? Was ist denn das Leben? Ein Vor-sich-selber-davon-Laufen, sich beschäftigen, damit man nicht über seine Misere erschrecken muß. Diese Beschäftigung nennt man dann Arbeit. Arbeiten und Wegwerfwaren herstellen, das erscheint dem Menschen doch nur deshalb als sinnvoll, weil er selbst nur eine Wegwerfware der Natur ist. Und nach der Arbeit? Saufen, fressen, bumsen, chachacha! Für diesen totalen Unsinn, den man Leben nennt, mache ich keine Entziehungskur mehr mit!« »Ihre Aussagen sind in sich widersprüchlich. Ihre Aussage, daß das Leben sinnlos sei, halten Sie doch für sinnvoll, sonst würden Sie diese Aussage ja gar nicht machen. Außerdem erwarten Sie eine sinnvolle Antwort, sonst hätten Sie nicht die feiernde Gemeinde aufgesucht. Sie wären sich zu blöd vorgekommen, ihre Aussagen vor irgendwelchen Pennbrüdern zu machen. Sie sind zur Zeit nicht klar im Kopf! Gehn Sie! Rufen Sie die Telephonseelsorge an und lassen Sie uns jetzt in Ruhe Weihnachten feiern.« wird der Nachbar des Lesers reden. Der Alkoholiker wird schreien: »Ihr werdet alle noch zum Teufel gehen mit euren Scheißweihnachten!« Er wird eine Pistole ziehen und auf den Nachbarn zielen. In Nanosekunden werden folgende Gedanke durch das Hirn des Lesers eilen, ohne daß sie zu seinem Bewußtsein kommen: Das Hirn des Menschen ist im Prinzip nur dafür eingerichtet, daß der Kampf ums Überleben einigermaßen gelingt. Die Unterbrechungen im Kampf ums Überleben können im günstigsten Fall als zweideutige Symbole für das wahre Leben gelten, das nur geahnt, aber nicht gewußt werden kann. Die Aussage, das Leben sei im Grunde schön, ist zu banal, als daß sie einen Märtyrertod rechtfertigen könne. Geistesgegenwärtig oder instinktiv – der Leser wird es selbst nicht wissen – wird er seinen Nachbarn zu Boden reißen. Ein Knall wird durch die Kirche hallen. Kaum wird sich der Leser bewußt werden, daß er ein Menschenleben gerettet haben wird und nun stolz werden darf wie ein Helgoländer Lebensrettungsschwimmer mit braungebrannten muskulösem Oberkörper, da wird er Frauen kreischen hören, wie er es noch nie gehört haben wird. Der Priester wird in Ohnmacht fallen mit den Worten: »Ich kann kein Blut sehen.« Dann wird der Leser wahrnehmen, daß der Alkoholiker sich selbst eine Kugel durch den Kopf geschossen haben wird und im Fallen die Altardecke mit Kreuz und Kerzen und Blumen heruntergezogen haben wird. Die Pastoralreferentin wird aus der ersten Bankreihe zum Altartisch eilen und sehen; daß der heruntergerissene Gekreuzigte am Herzen des Toten in verzweifelnder Angst ruht. Sie wird ans Ambo treten und durch das Mikrophon sprechen: »Ist jemand bereit, zum Pfarrhaus zu gehen und die Haushälterin zu bitten, den Rettungsdienst anzurufen? Hat eine der anwesenden Damen Parfüm bei sich, damit der Pfarrer aus seiner Ohnmacht erwacht. Außerdem bitte ich die Gemeinde, im stillen Gebet zu verharren, bis die Feuerwehr eintrifft.« Dann wird für einige Zeit Stille sein. Ein zwölfjähriger Knabe, der zum ersten Mal in seinem Leben mit dem realen Tod konfrontiert sein wird, wird versuchen, aus der Kirche zu eilen. Er wird es nicht schaffen und sich in der Kirche übergeben müssen. Frauen werden laut schluchzen, ihre Männer werden versuchen, sie zu trösten. Da wird die Pastoralreferentin wieder ans Mikrophon treten und sagen: »Ich halte diese Situation nicht aus. Mir schlottern die Knie. Vielleicht hilft uns ein Wort aus der Bibel. Aber ich weiß nicht welches. Sie werden es vielleicht für Aberglaube halten. Aber immer, wenn ich ratlos bin, versuche ich es mit Bibelstechen.« Sie wird in ihrer Handtasche kramen und den Stielkamm herausfischen, der neben den Präservativen liegen wird. Sie wird mit dem Kamm in die zugeklappte Bibel stechen und dann die Seiten aufschlagen, zwischen die der Kamm gedrungen sein wird. Sie wird vorlesen: »So spricht der Herr: ›Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.‹ Amos Kapitel 5, Verse 21-24.« Hier endet die Zukunftsschau. In der traurigen Gewißheit, mit dieser Geschichte Fundamente gelegt zu haben, auf welche eifrige LeserInnen goldene Kälber errichten werden, und im Nachdenken darüber, daß Bilderstürmerei auch nicht das letzte Wort sein kann, wünscht der Autor seiner LeserInnenschaft eine durchkreuzte Weihnacht.
Der verehrte Leser ist hiermit eingeladen, in der Nacht zum 25. Dezember am Weihnachtsgottesdienst
1997 ende juni
ohrenbiss und massenschlägerei
waren nicht in klagenfurt
ohne sorge sei ohne sorge
wer sucht schon peanuts in kärnten
wenn es in wimbledon erdbeeren mit sahne gibt
geographische laien
liegt böhmen nicht am meer
eine tote bei den toten hosen
ist eine tv-news
wen scheren schon kritikerehren
auch öffentlich-rechtlich ist fast stumm
wohin aber gehen wir
medienerfahren
wenn wir niemanns werbewert erfragen
wer raucht schon im bett
sei ohne sorge sei ohne sorge
gewähren wir verschwiegen asyl
den reisenden und kreisenden
den reißenden und kreißenden
den heischenden und kreischenden
am besten
wenn totenstille
eintritt
Laufschrift - ein Lesebuch
Die Anthologie (ISBN 3-00-005481-2) kann im Buchhandel bestellt, in einigen Essener Buchhandlungen direkt erworben oder auf dem Versandweg angefordert werden. Der vorab zu entrichtende Selbstkostenpreis beträgt 19,80 DM zuzüglich Porto.
Pflichtlektüre
Restexemplare der Pflichtlektüre sind noch zu erhalten. Info´s hierzu bitte E-mail an den Mitautor
Unsere Arbeit ist längst nicht abgeschlossen